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Psychotherapeutische Behandlung von Zwangsstörungen

13. November 2024, Dr. phil. Lorena Eisenegger

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Psychotherapie als Hilfe um Antidepressiva erfolgreich abzusetzen

Psychotherapie erfüllt in der heutigen Gesellschaft vielfältige wichtige Funktionen. Sie hilft und unterstützt in Lebenskrisen, bei psychischen Problemen, bei wichtigen Entscheidungen, bei Partnerschaftsproblemen, bei unerfülltem Kinderwunsch, bei der Sinnsuche, usw. Seit neustem kommt ihr immer mehr eine neue Funktion zu, und dies ausgerechnet bei Antidepressiva, den Medikamenten, die viele Ärzte gerne auch als vermeintlich kostengünstigere Alternative zur Psychotherapie verschreiben. Als Folge dessen sind die Verschreibungsraten stetig angestiegen; in der Schweiz nehmen rund 10% aller Erwachsenen Antidepressiva ein (Haller et al., 2019), in Ländern wie England sind es sogar 17% (Marsden et al., 2019). Auffällig ist dabei, dass in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Verschreibungsraten stetig zugenommen haben, sondern auch die Verschreibungsdauer. Ein wichtiger Grund, warum immer mehr Menschen Antidepressiva selbst bei leichteren Depressionsformen auf viele Jahre oder sogar unbestimmte Zeit hinaus einnehmen, wurde in deren Entzugsreaktionen verortet (Hengartner et al., 2019).

Wie viele andere psychoaktive Substanzen auch, darunter Opiate, Benzodiazepine oder Alkohol, führen Antidepressiva nach längerer Einnahme zu einer körperlichen Adaptation, was auch als Toleranzentwicklung bezeichnet wird (Fornaro et al., 2019). Wird das Medikament dann abgesetzt, selbst bei einem stufenweisen Ausschleichen über einige Wochen, können sich belastende und verstörende Entzugssymptome bilden, darunter Panik, Schwindel, Muskelschmerzen, Desorientierung, Benommenheit, Dysphorie, Insomnia, Agitation, oder elektoschockartige Schläge (Fava et al., 2015). Um diese Entzugsreaktionen zu minimieren, müssten einige Patienten die Medikamente über viele Monate hinaus in minimalst-kleinen Dosisreduktionen ganz langsam ausschleichen (Horowitz & Taylor, 2019). Leider fehlt dieses Wissen bei den Ärzten weitgehend, da es kaum Forschung dazu gibt und auch die Behandlungsrichtlinien sich auf überholte Falschannahmen beziehen (Davies et al., 2019). Anstatt dass Entzugsreaktionen korrekt erkannt werden und entsprechend das Ausschleichen der Medikamente angepasst wird, diagnostizieren viele Ärzte fälschlicherweise das Wiederauftreten einer psychischen Störung und ordnen unnötigerweise Langzeitmedikamention an.

Gerade Langzeitkonsumenten empfinden die Entzugsreaktionen häufig als schwerwiegend und stark belastend und brauchen darum zusätzlich psychotherapeutische Hilfe, wenn sie die Medikamente erfolgreich absetzen wollen (Fava & Belaise, 2018). Inzwischen wurden einige solcher psychotherapeutischen Programme entwickelt und auch wissenschaftlich evaluiert. Die ersten Befunde sind sehr erfreulich und stimmen zuversichtlich, dass Psychotherapie den Patienten beim Absetzen der Medikamente massgeblich helfen kann. Eine kürzlich publizierte systematische Übersichtsarbeit fand, dass mit der Hilfe von Psychotherapie 40-95% aller Patienten ihre Medikamente erfolgreich absetzen können, wohingegen Hausärzte ohne psychotherapeutische Unterstützung in weniger als 10% aller Fälle erfolgreich sind. Zudem war nach zwei Jahren das Risiko für eine Wiedererkrankung rund drei Mal höher, wenn beim Absetzen der Antidepressiva keine Psychotherapie angewandt wurde; keine Unterschiede in den Wiedererkankungsraten gab es im Vergleich zur rückfallprophylaktischen Langzeit-Pharmakotherapie (Maund et al., 2019). Zumal Antidepressiva zahlreiche Langzitrisiken bergen, darunter kardiovaskuläre Probleme, Schlafstörungen und sexuelle Dysfunktion (Carvalho et al., 2016), ist das Absetzen von Antidepressiva mit begleitender Psychotherapie sicherlich eine Option, die aus gesundheitlichen Gründen als Alternative zur Langzeitmedikamentation auf unbestimmte Zeit stärker zu berücksichtign ist. Jedenfalls kann die Psychotherapie eine grosse Hilfe sein, Antidepressiva selbst bei schweren Entzugsreaktionen erfolgreich abzusetzen. Diese Angebote müssen darum ausgebaut und weiterentwickelt werden.

Literatur:

Carvalho AF, Sharma MS, Brunoni AR, et al (2016). The safety, tolerability, and risks associated with the use of newer antidepressant drugs: A critical review of the literature. Psychotherapy and Psychosomatics, 85: 270-288.

Davies J, Read J, Hengartner MP, et al (2019). Clinical guidelines on antidepressant withdrawal urgently need updating. BMJ, 365: l2238.

Fava GA, Belaise C (2018). Discontinuing antidepressant drugs: Lesson from a failed trial and extensive clinical experience. Psychotherapy and Psychosomatics, 87: 257-267.

Fava GA, Gatti A, Belaise C, et al (2015). Withdrawal symptoms after selective serotonin reuptake inhibitor discontinuation: A systematic review. Psychotherapy and Psychosomatics, 84: 72-81.

Fornaro M, Anastasia A, Novello S, et al (2019). The emergence of loss of efficacy during antidepressant drug treatment for major depressive disorder: An integrative review evidence, mechanisms, and clinical implications. Pharmacological Research, 139: 494-502.

Haller E, Watzke B, Blozik E, et al (2019). Antidepressant prescription practice and related factors in Switzerland: A cross-sectional analysis of health claims data. BMC Psychiatry, 19: 196.

Horowitz MA, Taylor D (2019). Tapering of SSRI treatment to mitigate withdrawal symptoms. Lancet Psychiatry 6, 538-546.

Hengartner MP, Davies J, Read J (2019). Antidepressant withdrawal – The tide is finally turning. Epidemiology and Psychiatric Sciences, 1-3.

Marsden J, White M, Annand F, et al (2019). Medicines associated with dependence or withdrawal: A mixed-methods public health review and national database study in England. Lancet Psychiatry, 6: 935-950.

Maund E, Stuart B, Moore M, et al (2019). Managing antidepressant discontinuation: A systematic review. Annals of Family Medicine, 17: 52-60.

PD Dr. Michael P. Hengartner