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GYNÄKOPSYCHOLOGIE IN DER AMBULANTEN PSYCHOTHERAPIE PRAXIS: Häufige Störungsbilder & hilfreiche Interventionen

26. September 2024, Dr. rer. nat. Misa Yamanaka

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Die Coronakrise oder -chance? Wieso die aktuelle Lebenssituation für uns alle gleich und doch so unterschiedlich ist.

Nach Klaus Grawes konsistenztheoretischem Modell strebt jedes Individuum nach Konsistenz. Vereinfacht ausgedrückt streben wir alle danach, dass unsere Bedürfnisse befriedigt werden. Einerseits gibt es Annäherungsziele – von diesen Bedürfnissen wollen wir so viel es geht. Hierunter zählt beispielsweise das Bedürfnis nach Geselligkeit, Intimität, Leistung, Anerkennung, Sinnhaftigkeit oder auch das Leben auszukosten. Andererseits gibt es aber auch Vermeidungsziele – diese wollen wir möglichst fern von uns halten. Beispielsweise das Bedürfnis nicht allein sein zu wollen, Verletzungen, Konflikte oder Kontrollverlust zu vermeiden.
Es konnte wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass wenn für uns wichtige Bedürfnisse länger nicht ausgelebt werden können, ein Spannungszustand entsteht. Dieser kann auch als Stresszustand verstanden werden, unter welchem unser Organismus nicht optimal arbeiten kann. Die Folge davon können psychische und physische Beschwerden sein.

Die aktuelle Lebenssituation bringt für uns alle viele solcher Quellen der Inkongruenz mit sich. Wir können für uns wichtige Bedürfnisse (z.B. Geselligkeit, Intimität, Autonomie) viel schwerer umsetzen und gleichzeitig unangenehme Situationen (z.B. Kontrollverlust, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit etc.) weniger gut von uns fernhalten.
Ja, wir sitzen aktuell alle in demselben Boot, doch die Bedeutung der aktuellen Isolation und die Auswirkungen davon sind für uns alle sehr unterschiedlich. Was diese Situation mit uns macht ist höchst individuell. Denn nicht jedes Bedürfnis ist für jeden gleich wichtig. Und aufgrund unseres Lebens haben wir auch ganz unterschiedliche Möglichkeiten entwickelt diese Bedürfnisse zu befriedigen.
Es kann eine Chance sein, wenn unser Bedürfnis nach Bindung und Intimität nun viel mehr ausgelebt werden kann, weil wir mit unserer Familie «zu Hause festsitzen». Es kann jedoch auch sein, dass wir von unseren Liebsten abgeschnitten sind und unser Bedürfnis nach Bindung total unbefriedigt bleibt. Es kann sein, dass es eine Chance ist unser Bedürfnis nach Leistung und Anerkennung auszuleben und neue Wege in der Ausübung unseres Berufes zu finden. Es kann jedoch auch sein, dass gerade dieses Bedürfnis massgeblich frustriert wird, weil wir unter diesen Umständen die Leistungsanforderungen nicht erfüllen können und kaum Anerkennung für die grosse Mühe bekommen.
Wir sind unter Umständen in unseren Annäherungszielen blockiert und Vermeidungsziele werden ständig aktiviert. Wir fühlen uns vielleicht einsam, haben viel mehr Konflikte, weil wir auf solch engem Raum leben müssen. Unser Bedürfnis nach Sicherheit wird hart auf die Probe gestellt, denn es kommen existenzielle Ängste auf. Wir haben keine Kontrolle und uns fehlt die Orientierung, denn keiner von uns weiss wie sich die Situation weiter entwickeln wird. Unser Bedürfnis nach Autonomie ist frustriert, weil wir nicht selber entscheiden können wohin wir gerade wollen.

Das Coronavirus birgt für uns alle jedoch auch eine Chance – wir können den Fokus nach innen richten. Gerade aktuell werden so viele Emotionen in uns aktiviert. Wenn wir den Mut haben uns diesen zuzuwenden, birgt das eine einmalige Chance in sich. Wir lernen uns selber, unser Funktionieren und unsere Bedürfnisse viel besser kennen. Letztlich ist dies einer der wesentlichsten Bausteine für ein zufriedenes und glückliches Leben.

Und doch soll hier auch kritisch angemerkt werden: Die Coronakrise nur als Chance zu sehen, scheint zumindest mir als zu einfach. Muster, welche sich bei uns über Jahre oder sogar Jahrzehnte eingebrannt haben, werden wir nicht in solch einer kurzen Zeit wieder los. Muster, wie wir mit unseren Problemen, wie wir mit anderen Menschen oder wie wir mit uns selber umgehen. Denn hinter diesen Mustern steht eine lange Geschichte. Oftmals hatten sie irgendwann einen Sinn – deshalb haben sie sich entwickelt. Sich von solchen Gewohnheiten nur durch den Weckruf des Coronavirus trennen zu können scheint zwar machbar, ist aber auch eine enorme (teils unrealistische) Herausforderung. Psychische Probleme wie Substanzmittelmissbrauch, häusliche Gewalt, Depressionen oder selbstzerstörerisches Verhalten wird nicht einfach aufhören. Aber dennoch kann die aktuelle Zeit als Chance oder Möglichkeit gesehen werden, eine Veränderung in Gang zu bringen. Einen Prozess, in welchem man sich seinen wirklichen Bedürfnissen und Werten wieder mehr annähern kann.

Was Sie jetzt für sich tun können:
Es ist wichtig sich an die aktuellen Bestimmungen zu halten. Sich solidarisch und verantwortungsbewusst zu verhalten, bedeutet jedoch nicht eigene Bedürfnisse gänzlich zurückzustellen. Für die eigene Gesundheit ist es wichtig den eigenen Bedürfnissen genügend Raum zu geben. In der aktuellen Situation kann dies jedoch bedeuten neue Wege zur Bedürfnisbefriedigung zu finden.

  • Setzen Sie sich hin und überlegen Sie, welche Bedürfnisse für Sie eigentlich ganz wichtig sind oder wären. Welches dieser Bedürfnisse wird aktuell nicht oder nur wenig befriedigt? Was könnten Sie tun, um dieses Bedürfnis auf einem anderen Weg zu befriedigen? Wenn Sie jetzt neue Wege der Bedürfnisbefriedigung finden, werden Ihnen diese auch in späteren Zeiten erhalten bleiben.
    Z.B. das Bedürfnis etwas Sinnvolles zu machen, können Sie auch jetzt noch ausleben. Sie können sich um anderen kümmern – auch über physische Distanz.
  • Wenn ein Bedürfnis besonders wichtig ist, dass sich nicht befriedigen lässt: Weshalb ist dieses so wichtig? Machen Sie sich vielleicht nochmals ganz deutlich bewusst, weshalb es ok ist dieses Bedürfnis für den Moment nur eingeschränkt auszuleben. Es wird in Zukunft wieder möglich sein diesem Bedürfnis nachzugehen.
    Z.B. Selbstbestimmung – Ja, Sie können aktuell nicht vollkommen selber bestimmen, was Sie tun möchten. Gleichzeitig gibt es immer noch ganz viel, dass Sie selber bestimmen können. Beispielsweise wie Sie Ihren Tagesablauf gestalten, welche Aktivitäten Sie einbauen oder ob Sie z.B. mit einem Freund telefonieren möchten. Auch die Entscheidung Rücksicht auf andere zu nehmen, ist eine selbstbestimmte Entscheidung.
  • Tragen Sie viel Sorge zu sich. Gerade wenn wichtige Bedürfnisse blockiert sind, sollten Sie sich besonders gut Sorge tragen. Was könnten Sie sich innerhalb der bestehenden Strukturen Gutes tun?
  • Fragen Sie sich einmal ganz bewusst: Wie gehe ich eigentlich mit mir selber um? Wie gehe ich damit um, wenn Probleme in meinem Leben auftauchen? Was mache ich, wenn in mir unangenehme Gefühle hochsteigen? Wie verhalte ich mich gegenüber anderen Menschen? Vielleicht erkennen Sie bereits einige Muster. Das Erkennen stellt der erste Schritt zur Veränderung dar.
  • Wenn die aktuelle Situation für Sie nur schwer zum Aushalten ist, weil Sie beispielsweise (existenzielle) Ängste haben, massive Konflikte vorhanden sind oder Sie unter psychischen Problemen leiden, dann holen Sie sich Unterstützung! Die psychische Grundversorgung ist weiterhin gewährleistet.

Vielleicht kann so die aktuelle Coronakrise für Sie auch zu einer Chance werden – ein Startschuss für eine Veränderung. Ich wünsche Ihnen viel Geduld, Energie und Gesundheit für diese Zeit.

Unser gesamtes Team wünscht Ihnen zudem trotz aller Herausforderungen wunderbare Ostertage. Gerne sind wir wieder ab dem Montag, 27. April 2020 mit aufschlussreichen Beiträgen im 2-Wochen-Rhythmus für Sie da.

Literatur:
Grawe, K. (2002). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe.
Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

Lic. phil. Nusa Sager-Sokolic